Bundessozialgericht hält an der Vermutung eines "offenen Arbeitsmarktes“ für gering qualifizierte Versicherte fest – aber macht neue Vorgaben für das Vorliegen einer schweren Leistungseinschränkung

von Constanze Würfel

Das Bundessozialgericht hat in einer Entscheidung vom 11.Dezember 2019, Az.: B 13 R 7/18 R festgestellt, dass nach wie vor von einer genügenden Anzahl von Arbeitsplätzen für gering qualifizierte Versicherte, die zwar vollschichtig einsetzbar sind, aber nur noch leichte körperliche Tätigkeiten verrichten können, auszugehen ist. Es beruft sich dabei auf arbeitsmarkt-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungen. Nach diesen gäbe es für sogenannte "Einfacharbeit" oder Helfertätigkeiten bundesweit gut fünf Millionen Stellen. Die voranschreitende Digitalisierung hätte (noch) nicht zu einem Wegfall solcher Tätigkeiten geführt.

 Diese Einschätzung, spiegelt sich aus meiner Erfahrung in der Praxis nicht wider. In dem Verfahren war die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung streitig. Wird das Restleistungsvermögen mit „vollschichtig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einsetzbar“ eingeschätzt und kann der Versicherte sich nicht auf einen Berufsschutz stützen, dann stellt sich in der Praxis sehr häufig – insbesondere bei älteren Versicherten - die Frage, ob der Arbeitsmarkt überhaupt noch genügend dieser einfachen Tätigkeiten bereit hält. Für einen PC-Arbeitsplatz fehlen vielen die erforderlichen Vorkenntnisse. Seit langem wird beklagt, dass immer mehr einfache Arbeitsplätze wegfallen.

 Der Versicherten/dem Versicherten wird dann vorgehalten, ob er einen geeigneten Arbeitsplatz finde, sei nicht das Risiko der Rentenversicherung, sondern der Arbeitslosenversicherung. Doch auch bei der Bundesagentur für Arbeit und beim Jobcenter herrscht Ratlosigkeit, wie diese Versicherte in den Arbeitsmarkt zu integrieren sind. Daran hat auch die verbesserte Arbeitsmarktlage nichts geändert.

 Ich frage mich sehr oft, wie viele Stellen der Arbeitsmarkt noch für Menschen bereithält, die nur noch leichte körperliche Tätigkeiten verrichten können. Gäbe es so viele Pförtnerstellen, wie Fälle, in denen Rentenantragsteller auf die Tätigkeit als Pförtner verwiesen werden, wäre jedes kleine Büro in Deutschland mit einer Pforte ausgestattet.

 Trotzdem kann die Entscheidung für die Versicherten von Nutzen sein. Das Bundessozialgericht stellt erstmals ausführlicher dar, was unter einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung oder einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen zu verstehen ist.

 Der Leitsatz der Entscheidung lautet: Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen liegt auch dann vor, wenn mehrere auf den ersten Blick gewöhnliche Leistungseinschränkungen aufgrund einer besonderen Addierungs- und Verstärkungswirkung ernste Zweifel an der Einsetzbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt begründen.

Liegen eine schwere spezifische Leistungsbehinderung oder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor, hat der Rentenversicherungsträger eine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen und kann eben nicht darauf verweisen, dass es auf dem Arbeitsmarkt ausreichend offene Stellen gibt. Ist die Verweisungstätigkeit für den Versicherten/die Versicherte nicht geeignet, ist eine volle Erwerbsminderung trotz vollschichtigem Leistungsvermögen gegeben.

Die Ungewöhnlichkeit einer Leistungseinschränkung beurteilt sich danach, wie stark die Möglichkeit eingeschränkt ist, erwerbstätig sein zu können. Das BSG gibt vor, dass jeweils im Einzelfall eine  Analyse erforderlich ist, ob und durch welche Auswirkungen die Einsatzmöglichkeiten ungewöhnlich beschränkt sind.

Die Bewertung körperlicher Einschränkungen erfolgt nach der bisherigen BSG-Rechtsprechung anhand verschiedener einfacher „Verrichtungen“ wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Kleben und Verpacken. In ihrem neuen Urteil passten die Kasseler Richter diesen Katalog der heutigen Arbeitswelt an und ergänzten „Verrichtungen“ wie Messen, Prüfen und Überwachen

Übernehmen aber nicht längst computergestützte/digital gesteuerte Maschinen die früher von Menschen verrichteten Arbeiten wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Kleben und Verpacken?   Jetzt kommen neu - auch die Verrichtungen Messen, Prüfen und Überwachen hinzu! Hier scheint die reale Arbeitswelt noch nicht bei den Kasseler Richtern angekommen zu sein. Aber immerhin, eine kleine Tür hat sich geöffnet…

 Constanze Würfel

Rechtsanwältin und Fachanwältin für Sozialrecht

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Von Constanze Würfel

DDR Berufskraftfahrer haben Berufsschutz als Facharbeiter

Das Sächsische Landessozialgericht hatte einen Fall zu entscheiden, in dem ein DDR Berufskraftfahrer eine Erwerbsminderungsrente begehrte. Im Zeitraum 1970 bis 1985 konnte der DDR-Ausbildungsberuf „Berufskraftfahrer“ ausschließlich im Rahmen der Erwachsenenqualifizierung erlernt werden. Der Kläger hatte sich zu DDR Zeiten im Wege der Erwachsenenqualifizierung im Rahmen einer 14-monatigen Ausbildung zum Berufskraftfahrer qualifiziert, dies wurde ihm mit einem Facharbeiterzeugnis bestätigt.

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Von Constanze Würfel

BSG entscheidet zur "Leeren Hülle" bei AAÜG Ansprüchen

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Von Sebastian Obermaier

Rentenwirksamkeit der DDR-Jahresendprämie

Das Bundessozialgericht hat mit Urteil vom 03.09.2007 – B 4 RS 4/06 R – erkannt, dass die in der DDR gezahlte Jahresendprämie bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen ist.

Da die Urteilsbegründung noch nicht veröffentlich wurde, kann derzeit noch nicht abgeschätzt werden, inwieweit die Entscheidung auf andere Fälle übertragbar ist.

Rentner, die seinerzeit eine Jahresendprämie bezogen haben, sollten jedoch nicht abwarten, sondern – zur Meidung etwaiger Nachteile - sofort einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X stellen.

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Von Christoph May

Aussetzung der Rentenanpassung 2004 verfassungsgemäß

Der 13. Senat des Bundessozialgerichts BSG) hat am 27. März 2007 entschieden, dass die Aussetzung der Rentenanpassung im Jahre 2004 die Grundrechte der Rentner nicht verletzt (AZ: B 13 R 58/06 R). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stünden Ansprüche und Anwartschaften auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung unter bestimmten Voraussetzungen unter dem Schutz des Grundrechts nach Art 14 Abs 1 GG. Ob dies auch für die Rentenanpassungen gilt, hat das Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden.

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Von Constanze Würfel

Erwerbsminderungsrente

Herr S. ist am 08.05.1956 geboren und von Beruf Baufacharbeiter und hat die letzten Jahre als Vorarbeiter in einem Bauunternehmen gearbeitet. Er ist bereits seit Monaten aufgrund erheblicher Beschwerden an der Bandscheibe und damit im Zusammenhang stehender psychischer Probleme arbeitsunfähig geschrieben. Eine Besserung ist nach Auffassung der behandelnden Ärzte nicht in Sicht. Eine OP wird nicht angeraten, physiotherapeutische Maßnahmen sind erschöpft. Herr S. fühlt sich nicht mehr in der Lage seine bisherige Tätigkeit als Baufacharbeiter auszuüben. Die Krankenkasse des Herrn S.

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